Ging es Ihnen auch einmal so? Anfangs schien alles zu stimmen: Genau diesen jungen Menschen wollten Sie als Azubi! Er oder sie hat schon im Praktikum schnell Fortschritte in der deutschen Sprache gemacht, ist freundlich im Umgang mit Kunden und führt Aufträge gewissenhaft aus. Und nun das: Wo sind Initiative, Elan, Pünktlichkeit, Teamintegration? Zwar zeigt sich Ihr Azubi grundsätzlich willig, an manchen Tagen läuft es auch wie geschmiert. Zuweilen gibt es jedoch Aussetzer Ihres Azubis, die ohne Ihr rechtzeitiges Eingreifen sogar Schäden für den Betrieb nach sich gezogen hätten.
Es scheint, als ob genügend Potenzial für eine erfolgreiche Ausbildung vorhanden ist, doch wo sind diese Potenziale in der Praxis? Wie kommen Sie an sie heran, wie können Sie diese Potenziale freilegen?
Was heißt überhaupt "Potenzial"? Der Begriff stammt aus dem Lateinischen und bedeutet "Macht, Stärke" und wird in vielen Fachgebieten jeweils spezifisch verwendet. Es bedeutet eine Möglichkeit, Kraft zu entfalten, Stärke zu zeigen.
Wie kann Ihr Azubi nun "Stärke" zeigen? Hierzu der Bericht einer Ausbilderin:
"Ich bin bereits lange Jahre Filialleiterin bei einem bundesweit tätigen Einzelhändler. Über ein Schülerpraktikum kam Idriss zu uns. Etwas rührte mich an dem bescheidenen Auftreten des Jungen. So bot ich ihm trotz relativ schlechter Noten nach erfolgreichem Praktikum einen Ausbildungsplatz im Einzelhandel an. Während der Probezeit ging alles noch relativ gut, doch dann begannen die Probleme: Mal kam er zu spät, mal kam er noch am dritten Tag im selben verschmutzten T-Shirt, mal rief mich die Berufsschule an, dass er einfach den Unterricht verlassen hätte und verschwunden sei. Gleichzeitig bemerkte ich, dass Idriss Tage hatte, an denen er relativ viel - auch während der Arbeitszeit - telefonierte und äußerst nervös und unkonzentriert wirkte. Dabei passierten dann auch viele Fehler.
Lange Zeit war ich mit ihm geduldig und sprach nur partiell Probleme an, da ich an Idriss glaubte. Meine Hoffnung war, dass sich diese Dinge legen würden, wenn Idriss richtig in das Team integriert wäre und sich an das Berufsleben gewöhnt hätte. Ich war mir sicher, der Junge hatte Potenzial! Außerdem versicherte er mir, wie gerne er diese Ausbildung machte und verhielt sich stets höflich und korrekt. Verstärkt traten dann aber auch Kollegen und Kolleginnen an mich heran, denen diese Dinge ebenfalls auffielen.
Nun musste ich handeln: Ich bat Idriss zum Gespräch und legte ihm meine Sicht der Dinge dar. Je weiter das Gespräch voranschritt, desto betroffener wurde er. Nach anfänglichen Ausflüchten erzählte er mir dann verschämt von seiner Situation: Er könne seit einiger Zeit keinen Kontakt zu seiner Familie in Syrien herstellen. Er wisse nicht, wo sich seine Eltern aufhalten. Außerdem hat er immer wieder Probleme mit seinen Mitbewohnern in einer Flüchtlings- Wohngemeinschaft. Er teilt sich ein Zimmer mit einem Landsmann, der arbeitslos ist. Er hat kaum Ruhe und Unterstützung beim Lernen des Berufsschulstoffs. Das lähmte ihn derart, dass er darüber natürlich alles andere vergaß. - Nun war klar, weshalb Idriss häufig unregelmäßige Arbeitsergebnisse aufwies, und ich konnte handeln."
Zunächst vermittelte die Ausbilderin ihrem Auszubildenden sozialpädagogische Hilfe in Form einer Beratung durch einen Flüchtlingsbetreuer des städtischen Jugendamts. Durch gezielte Nachhilfe konnte er in seinen schulischen Leistungen gestützt werden. Ein weiterer Schritt waren eine Beratung durch die Ausländerbehörde und die Agentur für Arbeit beziehungsweise das Jugendamt, wie Idriss durch mögliche Beihilfen einen eigenen Hausstand gründen oder in geeignetere Wohngruppen umziehen könnte. Begleitend gab es konkrete Unterstützung im beruflichen Alltag. Durch viele Gespräche mit der Ausbilderin konnte Idriss so weit gestützt werden, dass er insbesondere psychisch stark genug war, auch problematische Situationen zu meistern. Heute, nachdem Idriss die Ausbildung erfolgreich abschließen konnte, arbeitet er noch immer im selben Unternehmen und ist aufgrund seiner einfühlsamen Art bei Kunden und Personal äußerst beliebt.
Was bedeutet dieses Beispiel?
Fazit: Es lohnt sich, bei Ihren Azubis auf "Spurensuche" zu gehen und zu sehen, was sie umtreibt. Eine solche Vorgehensweise motiviert übrigens auch Ihre anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - die sehr genau diese Form der Mitarbeiterwertschätzung registrieren.
Natürlich unterscheiden sich die individuellen Schwierigkeiten - und Patentlösungen gibt es nicht. Manchmal liegen Probleme tatsächlich ausschließlich in der Person Ihres Azubis, in anderen Fällen verhindern behördliche Hürden und Vorschriften, dass der junge Mensch seine Situation selbst verändern kann.
Scheuen Sie sich nicht, Hilfestellung von außen in Anspruch zu nehmen. Manchmal sind gezielte Hilfen von außen äußerst nützlich und für den gesamten Prozess förderlich. Die Möglichkeiten und Maßnahmen liegen in jedem Fall anders und müssen individuell abgestimmt werden. Unter Umständen sind sogar maßgeschneiderte Unterstützungsprogramme notwendig. Ziel ist in jedem Fall, zusammen mit Ihrem Azubi erreichbare Schritte im Ausbildungsgeschehen zu erarbeiten.
In welchen Fällen kann das Umfeld einbezogen werden? Hier einige Möglichkeiten (Vernetzung mit anderen Akteuren):
Je nach Alter und Interesse des Azubis sollten Betreuungspersonen oder Willkommenslotsen und -lotsinnen erste Ansprechpartner/-innen sein. In der Regel kann man bei jungen Geflüchteten nicht auf Eltern oder andere Erziehungsberechtigte zurückgreifen. Betreuungspersonen kennen ihre „Schützlinge“ jedoch schon länger und wissen sie gut einzuschätzen.
Andere Azubis einzubeziehen, ist dann sinnvoll, wenn bestimmte betriebliche Konzepte dies ohnehin vorsehen. Beispielsweise können fortgeschrittene Azubis andere Auszubildende mit kürzerer Lehrzeit begleiten und betreuen.
Die Maßnahmen aller extern beteiligten Institutionen (z.B. Ausländerbehörde, Mentorenprogramm VerA, Berufsschule, Nachhilfe usw.) sollten bei Ihnen wieder zusammengeführt werden, damit ein abgestimmtes und maßgeschneidertes Konzept zur Begleitung Ihres Azubis erarbeitet und durchgeführt werden kann.
Besteht die Möglichkeit, dass Ihr Azubi gesundheitliche Probleme hat, die das Ausbildungsgeschehen hemmen, sollte dies in jedem Fall durch Externe abgeklärt werden. Beispielsweise können Traumatisierungen durch Flucht Blockaden auslösen, der Azubi ist psychisch oder physisch erkrankt, oder es könnte eine Suchtproblematik vorliegen.
Gerade Azubis mit Fluchthintergrund öffnen sich gegenüber „Fremden“, z.B. in der Nachhilfe oder bei der Ausbildungsbegleitung, eher als gegenüber dem betrieblichen Ausbildungspersonal. Warum? Häufig ist die Angst groß, dass Ihr Wissen um die Defizite Ihres Azubis nachteilig sein könnte. Nehmen Sie Ihren Azubis diese Angst: Achten Sie darauf, mit Ihren Azubis stets im Gespräch zu bleiben. Leisten Sie, falls erforderlich, auch praktische Hilfestellung im Alltag.