Potenziale erkennen

  • Mein Azubi kann doch mehr?!

    Ging es Ihnen auch einmal so? Anfangs schien alles zu stimmen: Genau diesen jungen Menschen wollten Sie als Azubi! Und nun das: Wo sind Initiative, Elan, Pünktlichkeit, Teamintegration? Zwar zeigt sich Ihr Azubi grundsätzlich willig, an manchen Tagen läuft es auch wie geschmiert. Zuweilen gibt es jedoch Aussetzer Ihres Azubis, die ohne Ihr rechtzeitiges Eingreifen sogar Schäden für den Betrieb nach sich gezogen hätten.

    Es scheint, als ob genügend Potenzial für eine erfolgreiche Ausbildung vorhanden ist, doch wo sind diese Potenziale in der Praxis? Wie kommen Sie an sie heran, wie können Sie diese Potenziale freilegen?

    Was heißt überhaupt „Potenzial“? Der Begriff stammt aus dem Lateinischen und bedeutet „Macht, Stärke“ und wird in vielen Fachgebieten jeweils spezifisch verwendet. Es bedeutet eine Möglichkeit, Kraft zu entfalten, Stärke zu zeigen.

  • Wie kann ich Potenziale fördern?

    Wie kann Ihr Azubi nun "Stärke" zeigen? Hierzu der Bericht einer Ausbilderin:

    "Ich bin bereits lange Jahre Filialleiterin bei einem bundesweit tätigen Einzelhändler. Über ein Schülerpraktikum kam Sergio zu uns. Etwas rührte mich an dem bescheidenen Auftreten des Jungen. So bot ich ihm trotz relativ schlechter Noten nach erfolgreichem Praktikum einen Ausbildungsplatz im Einzelhandel an. Während der Probezeit ging alles noch relativ gut, doch dann begannen die Probleme: Mal kam er zu spät, mal kam er noch am dritten Tag im selben verschmutzten T-Shirt, mal rief mich die Berufsschule an, dass er einfach den Unterricht verlassen hätte und verschwunden sei. Gleichzeitig bemerkte ich, dass Sergio Tage hatte, an denen er relativ viel - auch während der Arbeitszeit - telefonierte und äußerst nervös und unkonzentriert wirkte. Dabei passierten dann auch viele Fehler.

    Lange Zeit war ich mit ihm geduldig und sprach nur partiell Probleme an, da ich an Sergio glaubte. Meine Hoffnung war, dass sich diese Dinge legen würden, wenn Sergio richtig in das Team integriert wäre und sich an das Berufsleben gewöhnt hätte. Ich war mir sicher, der Junge hatte Potenzial! Außerdem versicherte er mir, wie gerne er diese Ausbildung machte und verhielt sich stets höflich und korrekt. Verstärkt traten dann aber auch Kollegen und Kolleginnen an mich heran, denen diese Dinge ebenfalls auffielen.

    Nun musste ich handeln: Ich bat Sergio zum Gespräch und legte ihm meine Sicht der Dinge dar. Je weiter das Gespräch voranschritt, desto betroffener wurde er. Nach anfänglichen Ausflüchten erzählte er mir dann verschämt von seiner Familie: die Mutter in einer Suchtproblematik gefangen, der Vater so gut wie nie zu Hause und wenn beide zu Hause waren, gab es ständig Streitigkeiten. Sergio fühlte sich für die Mutter verantwortlich und versorgte den Haushalt, so gut er konnte. Das lähmte ihn derart, dass er darüber natürlich alles andere vergaß. - Nun war klar, weshalb Sergio häufig unregelmäßige Arbeitsergebnisse aufwies, und ich konnte handeln."

    Zunächst vermittelte die Ausbilderin ihrem Auszubildenden sozialpädagogische Hilfe, also praktische Unterstützung in seiner speziellen Notsituation. Sergio wurde beraten, wie er mit der Situation im Elternhaus umgehen konnte. Durch gezielte Nachhilfe konnte er in seinen schulischen Leistungen gestützt werden. Ein weiterer Schritt waren eine Beratung durch die Agentur für Arbeit beziehungsweise einen Sozialverband, wie Sergio durch mögliche Beihilfen einen eigenen Hausstand gründen oder in entsprechende Wohngruppen umziehen könnte. Begleitend erfolgte konkrete Unterstützung im beruflichen Alltag. Durch viele Gespräche mit der Ausbilderin konnte Sergio so weit gestützt werden, dass er insbesondere psychisch stark genug war, auch problematische Situationen zu meistern. Heute, einige Jahre nachdem Sergio die Ausbildung erfolgreich abschließen konnte, ist er ebenfalls Filialleiter im selben Unternehmen und aufgrund seiner einfühlsamen Art bei Kunden und Personal äußerst beliebt.

  • Was bedeutet dieses Beispiel?

    • Ausbilder und Ausbilderinnen haben eine besondere Verantwortung, die insbesondere in problematischen Situationen entsprechendes Einfühlungsvermögen erfordert.
    • Schöpft Ihr Azubi Potenziale nicht aus, geschieht dies nicht aus Berechnung, sondern häufig deshalb, weil ihn oder sie andere Dinge außerhalb der Arbeit so belasten, dass effektives Arbeiten nicht (mehr) möglich ist.
    • Mangelndes Selbstwertgefühl, übergroße Schüchternheit, physische und psychische Erkrankungen, aber auch sprachliche Defizite - insbesondere bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund - können Hemmnisse bei der Potenzialentfaltung sein.

    Fazit: Es lohnt sich, bei Ihren Azubis auf "Spurensuche" zu gehen und zu sehen, was sie umtreibt. Eine solche Vorgehensweise motiviert übrigens auch Ihre anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter - die sehr genau diese Form der Mitarbeiterwertschätzung registrieren.

    Natürlich unterscheiden sich die individuellen Schwierigkeiten - und Patentlösungen gibt es nicht. Manchmal liegen Probleme tatsächlich ausschließlich in der Person Ihres Azubis, in anderen Fällen liegen trotz häuslicher Konflikte so starke innerfamiliäre Bindungen vor, dass es dem jungen Menschen nicht möglich ist, sich davon zu lösen. Manchmal muss man sich auch selbstkritisch fragen, ob die eigenen Ausbildungsmethoden in diesem Fall die richtigen sind.

  • Welche Möglichkeiten bestehen noch?

    • Führen Sie eine Potenzialanalyse mit Ihrem Azubi durch. Versuchen Sie, mit gezielten Aufgabenstellungen herauszufinden, wo Stärken und Schwächen liegen und setzen Sie dann dort mit Ihren Maßnahmen an.
    • Führen Sie regelmäßige Feedbackgespräche mit Ihren Azubis und sprechen Sie Probleme konkret an, damit Sie rechtzeitig eingreifen können: Holen Sie den jungen Menschen dort ab, wo er oder sie gerade steht.
    • Erarbeiten Sie gemeinsam mit Ihrem Azubi konkrete Maßnahmen und umsetzbare Möglichkeiten.
    • Fördern Sie Kompetenzen, Stärken und Interessen Ihres Azubis, fordern Sie aber auch deren Einsatz.
    • Leisten Sie, falls erforderlich, praktische Hilfestellung im Alltag.
    • Scheuen Sie sich nicht, Hilfestellung von außen in Anspruch zu nehmen.
  • Kann ich das Umfeld meines Azubi in die Potenzialanalyse einbeziehen?

    Kann ich das Umfeld meines Azubi in die Potenzialanalyse einbeziehen?

    Manchmal sind gezielte Hilfen von außen äußerst nützlich und für den gesamten Prozess förderlich. Wie bereits erwähnt, liegen die Möglichkeiten und Maßnahmen in jedem Fall anders und müssen individuell abgestimmt werden. Unter Umständen sind sogar maßgeschneiderte Unterstützungsprogramme notwendig. Ziel ist in jedem Fall, zusammen mit Ihrem Azubi erreichbare Schritte im Ausbildungsgeschehen zu erarbeiten.

     

    In welchen Fällen kann das Umfeld einbezogen werden? Hier einige Möglichkeiten:

    • Je nach Alter und Interesse des Azubi sollten die Erziehungsberechtigten erste Ansprechpartner sein. In der Regel können Eltern mit am meisten dazu beitragen, dass Hemmnisse erklärt und Wege gefunden werden können, wie alle Beteiligten an die verschütteten Potenziale gelangen können.
    • Die Einbeziehung anderer Azubis ist dann sinnvoll, wenn bestimmte betriebliche Konzepte dies ohnehin vorsehen. Beispielsweise können fortgeschrittene Azubis andere Auszubildende mit kürzerer Lehrzeit begleiten und betreuen.
    • Der Betriebsrat sollte nur dann einbezogen werden, wenn arbeitsrechtliche Fragestellungen auftreten, die Sie alleine nicht mehr lösen können.
    • Die Maßnahmen aller extern beteiligten Institutionen (z. B. Mentorenprogramm, Berufsschule, Nachhilfe et cetera) sollten bei Ihnen wieder zusammengeführt werden, damit ein abgestimmtes und maßgeschneidertes Konzept zur Begleitung Ihres Azubis erarbeitet und durchgeführt werden kann. 
    • Besteht die Möglichkeit, dass Ihr Azubi gesundheitliche Probleme hat, die das Ausbildungsgeschehen hemmen, sollte dies in jedem Fall durch Externe abgeklärt werden. Beispielsweise können Funktionsstörungen des Gehirns Blockaden auslösen, der Azubi ist psychisch oder physisch erkrankt oder es könnte eine Suchtproblematik vorliegen.

     

    Gerade Azubis mit besonderen Hemmnissen öffnen sich gegenüber „Fremden“, z. B. in der Nachhilfe oder bei der Ausbildungsbegleitung eher, als gegenüber dem betrieblichen Ausbildungspersonal. Warum? Häufig ist die Angst groß, dass Ihr Wissen um die Defizite Ihres Azubis nachteilig sein könnte. Nehmen Sie Ihren Azubis diese Angst: Achten Sie darauf, mit Ihren Azubis stets im Gespräch zu bleiben.

     

  • Hier finde ich Hilfe: Beratungs- und Unterstützungsangebote

    • Ausbildungsberatung der Kammern. Kontakte zu Kammern finden sich unter www.dihk.de, Rubrik „IHK-Finder“.
    • Das Bundesinstitut für Berufsbildung in Bonn bietet auf seiner Homepage eine Fülle an Informationen: www.bibb.de. Hier finden sich auch Informationen zu Potenzialanalysen in Berufsorientierungsprogrammen, Durchführung und Qualitätsstandards.
    • Eine weitere Aktion des Bundesinstitutes für Berufsbildung ist eine spezielle Homepage für Benachteiligte im Ausbildungsbereich. Das „Good Practice Center“ bietet eine Fülle von Informationen zum Thema „Förderung von Benachteiligten in der Berufsbildung“ und bietet einen monatlichen Newsletter an. www.good-practice.de.
    • Die Homepage des Senior Expert Service, der das erwähnte Mentorenprogramm „VerA“ für Auszubildende aufgelegt hat, lautet www.ses-bonn.de.
    • Ausbildungsbegleitende Hilfen (abH-Maßnahmen) sind in jedem Fall nützlich, da sie sowohl schulische als auch sozialpädagogische Unterstützung beinhalten (siehe Baustein abH).

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