Wenn Ihr Azubi häufig ohne ersichtlichen Grund aufbrausend oder sogar aggressiv wird, kann das verschiedene Ursachen haben. Klar ist: In der Pubertät reagieren junge Menschen ohnehin schneller und negativer auf Reize und Stresssituationen. Im Fall von jungen Geflüchteten kommt hinzu, dass sie eher in Stresssituationen kommen, weil das Umfeld, die Sprache und die Aufgaben für sie herausfordernd und in höchstem Maße verunsichernd sind. Zudem sind diese jungen Menschen in der Ausbildung einem hohen Erwartungsdruck ausgesetzt. Diesen Druck bauen sie oft selbst auf, weil ein Gelingen der Ausbildung für sie persönlich, ihren Aufenthaltsstatus und ihre Familie entscheidend ist.
Nach unserer gängigen, mitteleuropäischen Auffassung sollten normalerweise schon Kinder eine Aggressionshemmung entwickeln, die sie daran hindert, in schwierigen Situationen Grenzen zu überschreiten. Gewalt ist zwar in Notfällen eine lebensrettende Strategie. Sie darf aber nur als letztes Mittel zur (Selbst-)Verteidigung eingesetzt werden.
Der Einsatz von Gewalt wird jedoch gelernt. Lebenserfahrungen in der Familie und Fluchterfahrung beeinflussen häufig die Art und Weise, wie geflüchtete Jugendliche Konflikte erleben und zu lösen versuchen. Die Erfahrung, nur durch Selbstbehauptung und aggressives Verhalten (im echten Sinne des Wortes) an sein Ziel zu kommen, lässt sich nicht so schnell ablegen. Auch traumatisierende Erfahrungen wie Folter und Misshandlung können die Ursache für eigene Aggression sein. Die Gewaltbereitschaft von Jugendlichen und jungen Erwachsenen kann also erhöht sein, wenn sie selbst regelmäßig Gewalt erlebt haben.
Im Betrieb hat aggressives Verhalten seinen Ursprung häufig in einem Konflikt oder Machtkampf mit dem Ausbildungspersonal oder innerhalb der Ausbildungs- bzw. Kollegengruppe. Oft sind solche Reaktionen die einzige Möglichkeit für einen Jugendlichen, Macht oder Kontrolle zu erfahren. Es kann sich aber auch um impulsives Verhalten handeln, das sich aus einer sprachlichen Ohnmacht heraus entwickelt. Dies führt häufig zu einem Teufelskreis: Der Druck auf den Azubi wird verstärkt, aggressive Reaktionen auf beiden Seiten verschärfen sich. Der Konflikt eskaliert und lässt nur Verlierer/-innen zurück.
Wichtig ist zunächst einmal: Lassen Sie sich nicht provozieren! Gehen Sie auf keinen Fall auf das aggressive Verhalten ein und diskutieren Sie auch nicht. Welche Möglichkeiten haben Sie, aus einem Machtkampf auszusteigen?
Erkennen Sie die Anzeichen für einen beginnenden Konflikt, um ihn möglicherweise noch zu stoppen: Bevor Sie das "Feuer" eröffnen, versetzen Sie sich in die Lage des jungen Geflüchteten und versuchen Sie, Ursachen für das aggressive Verhalten zu finden. Fühlt sich der Auszubildende überfordert, in die Ecke gedrängt oder gab es ein Missverständnis in der Kommunikation? Denken Sie an Eigenschaften, die Sie an Ihrem Azubi mögen, erinnern Sie sich an schwierige Situationen, die er/sie gut gemeistert hat. Stimmen Sie sich dadurch versöhnlicher.
Menschliches Konfliktverhalten ist meist gut vorhersehbar. Das ist einerseits frustrierend für beide Seiten ("schon wieder"), andererseits macht es den Konfliktverlauf berechenbar. Der Konflikt verläuft in vertrauten Bahnen.
Wenn Sie einen Konflikt vorhersehen können, können Sie ihn auch verändern. Gehen Sie auf die andere Seite zu und fordern Sie ein klärendes Gespräch unter vier Augen. Machen Sie klar, dass Ihnen gute persönliche Beziehungen am Arbeitsplatz wichtig sind und dass Sie als Vorgesetzte/-r keine Aggressionen am Arbeitsplatz dulden. Laden Sie den/die Auszubildende/-n ein, über die Ursachen der Aggression zu sprechen, um eine gemeinsame Lösung für den Konflikt und zur Vermeidung künftiger Konflikte zu finden.
Um zu verhindern, dass Emotionen hochkochen, muss das Gespräch sachlich geführt werden.
Schildern Sie zunächst, was aus Ihrer Sicht passiert ist und welche Beobachtungen Sie gemacht haben. Erklären Sie, warum aggressives Verhalten in dieser Situation für Sie unakzeptabel ist.
Lassen Sie dann den/die Auszubildende/-n erzählen, wie es zu der Aggression kam. Fragestellungen wie "Wie denkst du darüber?", "Ich weiß nicht, ob ich dich richtig verstanden habe. Kannst du mir etwas mehr darüber sagen?", helfen Ihnen, einer Eskalation des Gesprächs vorzubeugen.
Fühlen sich beide Konfliktparteien angehört und respektiert oder fühlt sich eine Seite manipuliert und überfordert? Haben Sie sich selbst und den Gesprächsverlauf unter Kontrolle, auch wenn Sie keine Kontrolle über Ihren Azubi selbst haben?
Wenn es sich um Aggressionen in der Ausbildungs- oder Kollegengruppe handelt, werden im nächsten Schritt die Konfliktparteien dazugeholt. Jeder soll die Möglichkeit haben, seine Sicht der Dinge zu schildern. In diesem Fall ist Ihre Rolle die eines Moderators, der eine Einigung beider Konfliktparteien herbeiführen muss (siehe dazu die Wissensbausteine "Interkulturelle Konflikte" und "Konfliktgespräche").
Versuchen Sie, sowohl organisatorische als auch persönliche Aspekte zu berücksichtigen, aber vermischen sie diese nicht. Wenn Ihr Azubi das Gesicht verliert, schwindet auch das Selbstwertgefühl: Er oder sie wird rebellieren, um nicht unterzugehen. Gelingt es nicht, noch während des Konfliktgesprächs die Balance wiederherzustellen, wird Ihr Azubi dies nach dem Gespräch schnell tun wollen und möglicherweise versuchen, sich zu rächen.
Geben Sie dem Gespräch deshalb einen guten Abschluss, auch wenn Sie eine negative Sanktion aussprechen müssen (z.B. "Hast du eine Idee, wie wir auch ohne Strafen miteinander klarkommen?").
Haben Sie Geduld! Veränderungen in persönlichen Beziehungen sind nicht einfach herbeizuführen. Möglicherweise benötigen Sie mehrere Anläufe, bis ein eingespielter Konflikt einen wirklich neuen Verlauf nimmt. Möglicherweise bemerken Sie bei strategischen Redewendungen, dass die andere Seite überrascht ist, aber noch nicht weiß, wie sie mit Ihren Angeboten umgehen soll.
Mit jedem offenen Gesprächsangebot wird sich die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass das nachfolgende Konfliktgespräch konstruktiver und produktiver sein wird.
Läuft aggressives Verhalten im Betrieb auf die Einschüchterung oder Unterdrückung einer Person oder Konfliktpartei hinaus, gilt für Sie:
Seien Sie ein Vorbild und zeigen Sie, wie Sie mit Stress und Kritik umgehen. Zeigen Sie, auf welche Weise es in Ihrem Betrieb in Ordnung ist, die Wut mal kurz herauszulassen (Auf dem Hof schreien? Auf den Boden stampfen? Gegen einen Reifen treten?).
Stellen Sie klare Verhaltensregeln für den Umgang miteinander auf und achten Sie auf deren Einhaltung. Über- oder unterfordern Sie den Azubi nicht, achten Sie auf leistungs- und lehrjahrgerechte Unterweisungen und Arbeitsaufträge. Bestärken Sie junge Flüchtlinge, wann immer es möglich ist, um die Belastung zu mindern, die sie sich teils selbst auferlegt haben.