"Paar-Weise"

von Conny Stenzel-Zenner

Wie ein neues Projekt die Eheleute Rüsges aus Eschweiler,eine Frau und einen Mann aus Syrien und die beidenFlüchtlingskoordinatoren der IHK Aachen zusammengeführt hat


Offiziellen Angaben zufolge bricht hierzulandejeder vierte Jugendliche seine Ausbildungvorzeitig ab – oft schon im ersten Lehrjahr. Umdiesem Trend entgegenzuwirken, engagiertsich der in Bonn ansässige „Senior-Experten-Service“ – bestehend aus Fach- und Führungskräftenim Ruhestand – ehrenamtlich in derInitiative „VerA“. „Wir können heute auf insgesamt54 Senior-Begleiter zurückgreifen, diebei Bedarf individuell helfen“, erklärt Kurlfinke.Die Ehrenamtler sind Fachleute aus Wirtschaftund Verwaltung, Industrie, Handwerkund Handel sowie aus dem Erziehungs- undGesundheitswesen. Sie stammen aus derSelbstständigkeit, aber auch aus kleinen undmittelständischen Betrieben sowie aus Kammern,Behörden und Verbänden.

„Wenn sich die Auszubildenden bei uns melden,schaffen wir es, dass 85 bis 90 Prozentvon ihnen die Lehre auch zu Ende führen“,betont Kurlfinke. DieAusbildungsbegleiterkennen die Sorgenjunger Menschen undhelfen individuell: Siebeantworten fachlicheFragen, begleiten Übungen für dieBerufspraxis, unterstützendie Vorbereitungenauf Prüfungen, kümmern sich um denAusgleich sprachlicher Defizite und förderndie soziale Kompetenz, die Lernmotivationund das Selbstvertrauen. Laut IHK Aachenkommen die häufigsten Anfragen aus denBereichen „Elektroniker“, „Hotelfachmann/-frau“, „Koch/Köchin“ und aus den kaufmännischenBerufen. Wer sich an die Mitarbeitervon „VerA“ wendet – gleichgültig, ob als Ausbilderoder als Auszubildender –, muss fürdieses Angebot nichts bezahlen. „VerA ist kostenfrei“,sagt Ute Boldt, die fest damit rechne, dass das Bundesbildungsministerium dieFörderung der Initiative in einer neuen Finanzierungsrundeauch bis zum Jahr 2022 fortführt.

Nach der Flucht kann „VerA“ helfen

Dr. Wolfgang Rüsges weiß, worauf esankommt. Der 76-Jährige aus Eschweiler istKaufmann, leitete lange Zeit sein eigenesChemie-Unternehmen, beriet mittelständischeBetriebe in Ostdeutschland und stehtjetzt mit seinem Wissen für die Belange vonAuszubildenden bereit. Zum Beispiel für Ali,einen 28-jährigen Afghanen, der aus dem Irannach Deutschland kam. Für den Iran sollte Alieinmal zum militärischen Einsatz nach Syriengehen – mit dem Versprechen, anschließendAusweispapiere zu bekommen. Drei Jahre sollteer als Soldat dienen. Ali wusste, dass keiner seiner Freunde vom Militärdienst zurückgekommenwar. Ali floh nach Deutschland.Im Flüchtlingsheim von Weisweiler lernte ihnElisabeth Rüsges kennen. „Er war strebsam,saugte alles Wissen auf und wollte arbeiten“,erinnert sich die Ehefrau des heutigen „VerA“-Begleiters Wolfgang. Sie bat ihren Mann, denjungen Afghanen bei der Suche nach einerAusbildung zu unterstützen. Wenig späterkonnte Ali eine Lehre zum Mechatroniker beginnen.„Die praktische Arbeit war für ihn niemalsein Problem. Zu Hause hatte er Klimaanlagenmontiert“, sagt Wolfgang Rüsges:„Aber in der deutschen Berufsschule kam ernicht mit.“ Also half Rüsges. „Bei ‚VerA‘ fürGeflüchtete geht es eigentlich immer um dieSchulbereiche Sprache, Mathematik undFachkunde, die den Teilnehmern die Lust ander Lehre nehmen“, weiß der ehemaligeUnternehmensleiter. „Also nimmt man diemotivierten, aber oft verzweifelten Azubis andie Hand und wiederholt: ‚Wir schaffen das!‘“,sagt Rüsges.

Gescheitert am „Satteldach“

Der „VerA“-Begleiter kann erahnen, wieschwierig die Ausbildung in Deutschland fürAusländer ist. „Wir kennen einen Iraner, derbereits ein Studium als Architekt abgeschlossenhatte“, erzählt Rüsges: „In Deutschlandwollte er dieses Studium nun anerkennenlassen, aber er scheiterte an Fachbegriffenwie ‚Satteldach‘.“ Der Grund dafür sei einfachnachzuvollziehen: Im Iran gebe es schlichtwegkeine Satteldächer... Kerstin Faßbender versteht indes ebensowenig von Satteldächern. Ihr Fachgebiet istdie Vermittlung geflüchteter Menschen inAusbildung und zusammen mit ihrem KollegenKurlfinke die Vorbereitung entsprechender„VerA“-Begleiter. „Unser ‚InterkulturellesTraining‘ verleiht den Ehrenamtlern Wissenund Verständnis zur Kultur und zur Identitätder ausländischen Auszubildenden“, sagt Faßbender.In der „VerA“-Initiative für Geflüchteteverkörpere der ehrenamtliche Begleiter dieRolle des Moderators oder des Mediatorszwischen Betrieb und Azubi oder zwischenAzubi und Schule. Bei den „InterkulturellenTrainings“ sei offen und ehrlich miteinandergesprochen worden. So diskutierten Deutscheund Syrer beispielsweise über den unterschiedlichenUmgang mit der Zeit. WährendTermine in Deutschland wichtig seien,würden Vorhaben in Syrien eher grob geplant.Während Deutsche ihre Arbeitsschritte dezidiertim Voraus festlegten, würden Syrer ihreArbeit ad hoc der jeweiligen Situation anpassen.„Vorurteile und Stereotype können wirnur dann überwinden, wenn wir uns kennenlernenund verstehen, warum andere Menschenanders handeln als wir“, sagt Kurlfinke.

Training mit Gästen

Torfah Karam und Esam Alrifaie sind mittlerweileim deutschen Alltag angekommen. Dassyrische Ehepaar lebt seit drei Jahren inAachen und integriert sich gut. Karam ist Lehrerinfür die Fächer Computer, Informatik undReligion und arbeitet in der internationalenFörderklasse des Aachener Couven-Gymnasiumssowie in der Bibliothek. Ihr Mann hat einIT-Praktikum bei der RWTH Aachen begonnen.„Als Arabischlehrer habe ich keine Stellegefunden“, sagt Alrifaie: „Jetzt repariere ichComputer und lerne viel über Netzwerke unddie Konfiguration von IT-Systemen“, sagt derFamilienvater. Nach seinem Praktikum würdeder 38-Jährige gern eine Ausbildung zum „Fachinformatiker Systemintegration“ absolvieren.

Auch er und seine Frau hatten auf Initiativeder IHK Aachen vor wenigen Wochenan einem der „Interkulturellen Trainings“ teilgenommen– um den neuen „VerA“-Begleiternneben aller Theorie auch ein leibhaftiges Beispielzu bieten. Als das syrische Ehepaar dabeivon den Eigenheiten der Deutschen, von dertypisch deutschen Pünktlichkeit und der deutschenArt der Planung von Projekten hörten,seien sie für diese und andere Informationenüber ihr neues Umfeld dankbar gewesen.„Wenn wir so etwas wissen, können wir unsauch danach richten“, sagt Karam, die beim„Interkulturellen Training“, das sich sonstallein an „VerA“-Begleiter richtet, einige Dingefür ein leichteres Leben in Deutschlandgelernt habe.Unternehmen, die sich durch die Ausbildunggeflüchteter Menschen neue Chancen eröffnenwollen, können sich ebenso bei der IHKmelden wie diejenigen, die sich als „VerA“-Begleiter engagieren möchten, sagt Faßbender:„Wir kennen viele geflüchtete Menschen, die wie Frau Karam und Herr Alrifaie beruflichbei uns Fuß fassen wollen – und es auch können.“

www.ses-bonn.de/startseite.html
www.vera.ses-bonn.de

IHK-Flüchtlingskoordinatoren und Ansprechpartner für „VerA“:

Kerstin Faßbender
Tel.: 0241 4460-208
kerstin.fassbender@aachen.ihk.de

Gisbert Kurlfinke
Tel.: 0241 4460-242
gisbert.kurlfinke(at)aachen.ihk.de

Artikel aus: wirtschaftliche NACHRICHTEN 05 | 2018 der IHK Aachen

 
 
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